Wissenschaft auf Tuchfühlung: Meine Doktorarbeit über Frauen mit problematischer Internetnutzung

Digital Victim

Ich wurde gebeten, über meine Dissertation zu schreiben. Das freut mich sehr, denn ich könnte ewig darüber reden. Das Thema ist wirklich eine Herzensangelegenheit von mir und gleichzeitig wissenschaftlich und gesellschaftspolitisch hoch relevant. Ganz wichtig war mir, dass es eine Forschung auf Augenhöhe sein soll mit denjenigen, die darin erforscht werden. Keine Wissenschaft aus der Distanz oder mit dem Ziel, vorgefertigte Hypothesen zu überprüfen. Betroffene Frauen selbst kommen in meiner sozialwissenschaftlich-qualitativen Interviewstudie vorrangig und ausführlich zu Wort: Wie definiert, erlebt und bewältigt jede einzelne Frau ihre problematische Internetnutzung? Was ist die jeweilige Lebensgeschichte dahinter?

Tatsächlich können auch Frauen von problematischer bis hin zu süchtiger Mediennutzung betroffen sein. Seit Mitte der 1990er Jahre forschen vor allem Psychologen und Psychiater zu einem Phänomen, das je nach Position und Hintergrund z.B. Internetsucht genannt wird oder exzessive Internetnutzung oder problematische Internetnutzung etc. Dabei standen bisher in der Forschung vor allem männliche Betroffene im Vordergrund. Internetsucht sei ein Männerproblem, so die Wissenschaftler, denn die würden ja in den Umfragen viel häufiger als internetsüchtig diagnositiziert. Dass nun auch weibliche Betroffene in den Blickpunkt rücken, ist in Deutschland vor allem der repräsentativen PINTA-Studie (2013) zu verdanken.

Besonders in jungen Altersgruppen wurden in dieser Studie überraschend viele der befragten Mädchen und Frauen als internetsüchtig diagnostiziert. In der Altersgruppe 14-16 Jahre sogar im Verhältnis 4,9% betroffene Mädchen versus 3,1 % betroffene Jungs. Nun stehen wir erst einmal ziemlich ratlos da, denn über Frauen weiß man ziemlich wenig. In den Mediensuchtberatungsstellen erscheinen weibliche Betroffene bisher so gut wie gar nicht. Gleichzeitig kursieren bereits erstaunlich viele Zuschreibungen und Annahmen. Zum Beispiel: Frauen hätten vor allem ein Problem mit sozialen Netzwerken. Darum müssten wir mehr Hilfsangebote mit Bezug auf Facebook & Co. anbieten. Aber ob das wirklich „der Punkt“ ist? Geht es hier um das Internet an sich, oder geht es hier um die Frau?

Für mich ist der biografische Bezug in meiner Forschungsarbeit zentral. Ich habe bisher mit ca. 20 Frauen bis zu dreistündige biografische Interviews geführt (hinzu kommen noch ca. 20 Experten). Dabei ist die gesamte Bandbreite von „normalem“ bis hin zu „süchtigem“ Internetgebrauch vorhanden – und zwar nach persönlicher Einschätzung der jeweiligen Interviewpartnerin. Genauso wie verschiedene Altersgruppen und Bildungshintergründe und Wohn- und Lebenssituationen. Gefunden habe ich meine Gesprächspartnerinnen über die Kombination diverser Rekrutierungsstrategien. Oder vielleicht haben sie eher auch mich gefunden. Ich hatte großes Glück, denn es gab erstaunlich viele, die bereit waren, mit mir ihre Lebens- und Leidensgeschichte zu teilen. Dazu bin ich, mit dem Reisekostenzuschuss einer Stiftung ausgestattet, immer wieder quer durch Deutschland gereist (mit einem erstaunlichen Händchen dafür, meine Termine immer wieder in die Bahnstreikphasen zu legen), um auskunftswillige Frauen in Cafés, in ihren Wohnzimmern, im geschützten Rahmen ihrer Selbsthilfekontaktstelle oder Suchtberatungsstelle zu treffen.

Jedes Interview war für mich ein Highlight. Wenn Menschen den Raum bekommen, um von ihrem Leben zu erzählen, dann entsteht etwas ganz Großes. In perfekt unvollkommenen Worten und mit ganz viel Mut zur Selbstkonfrontation haben meine Interviewpartnerinnen ausgedrückt, was letztendlich für alle Menschen im Leben essentiell ist. Bei ihnen spielt das Internet dabei eine Rolle, wenn auch nicht unbedingt eine entscheidende.

Die eigentliche Mammutaufgabe steht mir jetzt bevor: die Interviewtranskripte mit genauso viel Respekt und Offenheit auszuwerten, wie ich auch versucht habe, die Gespräche zu führen. Dazu werde ich vermutlich nach dem Ansatz der Grounded Theory vorgehen. Eine Herausforderung wird zudem sein, den interdisziplinären Spagat zwischen traditioneller Suchtforschung und der Soziologie zu bewältigen. Denn meine Dissertation wird zum einen von Prof. Dr. Anil Batra, Leiter der Sektion Suchtmedizin und Suchtforschung am Universitätsklinikum Tübingen, als auch von Prof. Dr. Jörg Strübing am Soziologischen Institut der Eberhard Karls Universität Tübingen betreut. Aber da taste ich mich Schritt für Schritt heran. Mit Druck und Verbissenheit geht sowieso gar nichts. Dazu ist der Forschungsgegenstand einfach zu komplex und uneindeutig. Dennoch habe ich natürlich einen Zeitplan, den ich erfüllen möchte. 2017 soll die Arbeit fertig sein. Bis dahin gibt es noch viel zu tun…

Bild: © StefanFotografie

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