Grenzgang: Schlaglichter auf einen Hilfseinsatz an der polnisch-ukrainischen Grenze

Anderthalb Tage. So viel Zeit bleibt, um mir Gedanken zu machen, was man mitnimmt auf eine Reise wie diese. Wenig Gepäck ist die Ansage, denn es sollen auf dem Rückweg Flüchtlinge mit zurück nach Deutschland kommen. Unbedingt warme Sachen, es herrschen raue Minusgrade. Keine Zeit, grundsätzlich nachzudenken: Richtig, was ich hier tue?

Fünf Fremde. Wir sind ein bunt zusammengewürfeltes Team, neben mir vier Männer die sich untereinander entweder sehr gut oder bislang gar nicht kennen. Wir werden ab sofort in unterschiedlichen Konstellationen ununterbrochen zusammen sein. Selbst unsere Unterkunft ist ein Massenlager, Privatsphäre Fehlanzeige.

Erster Kontakt. Meine Kenntnisse zu Polen beschränken sich auf historische Daten. Kein Land auf meiner Urlaubswunschliste. Bei ehrlicher Selbstbefragung unbegründetes, aber grundständiges Misstrauen. Der überaus herzliche Empfang durch die Nachtschicht um 1:10 Uhr auf einer Raststätte bei Daniszew, das große Hallo der polnischen Feuerwehr bei unserer Ankunft am Magazin nahe der Grenze, wo wir den Lkw mit Hilfsgütern entladen, die trotz aller Überlastung stets freundlichen Grenzsoldaten, die hilfsbereite Kassiererin beim Kreditkarten-Error, ehrliche Gastfreundschaft und allzeit lächelnde Gesichter … Zeit, Augen und Herz zu öffnen.

50 Meter hinter der Grenze. Unser Arbeitsplatz. Hier werden die Flüchtenden mit Essen und Trinken versorgt, sie bekommen medizinische Hilfe, wenn erforderlich, Hunde und Katzen dürfen sich die Beine vertreten. Wärmezelte geben Obdach vor der frostigen kontinentalen Kaltluft. Telefonkarten werden getauscht, weil die ukrainischen in Polen nicht funktionieren – der größte Horror für ausnahmslos alle, diese letzte Verbindung zu verlieren. Überhaupt Handys: Die Übersetzungs-Apps sind unbezahlbar.

Jede Menge helfende Hände. An „unserer“ Grenze in Dolhobyzow vollbringt die Feuerwehr logistische Meisterleistungen. Die von den freiwilligen Helfern erstversorgten Menschen werden in einem Shuttle-Service von der Grenze in so genannte Sleeping Houses gebracht, umgerüstete Stadt- und Sporthallen, Feuerwehrhäuser usw. Dort werden sie registriert, können zur Ruhe kommen, Ehrenamtliche aus den jeweiligen Ortschaften sorgen für regelmäßige Mahlzeiten – oft, so berichten es uns die Helfer dort, der Moment, an dem viele erst einmal zusammenbrechen. Und entscheiden müssen: Bleiben, oder einen der Shuttle-Dienste in die großen Städte in Anspruch nehmen?

Hunderte von Kilometern. Die wenigsten sind auf dem direkten Weg über die Grenze geflohen. Wer aus Charkow kommt, hat sich zuerst in Kiew sicher geglaubt und bald erkannt, dass das ein Trugschluss ist. Das nächste Etappenziel ist Lwiw, der Weg dahin nicht sicher vor Beschuss. Die Stadt platzt aus allen Nähten. Für die meisten jedoch das „Westlichste“, was sie sich bislang vorstellen konnten.

Eine Nachtschicht. Wir übernehmen den Standdienst der World Central Kitchen am Grenzübergang Budomierz von 18.00 bis 6.00 Uhr. Rüsten uns im Zwiebellook gegen die eisigen Nachttemperaturen. Das gespendete „Catering“ sieht Piroschki und Gulasch vor, wir verteilen warme Mahlzeiten. Wären die Gäste nicht besondere, eine Szenerie fast wie auf einem Straßenfest. Für das Zeltlager um uns herum wurde Sand aufgeschüttet, es gibt sogar ein Spielzelt für die Kinder.

Gegen Mitternacht. Es wird ruhiger, nur noch vereinzelte Gäste. Zeit für die Helfer, sich um unseren Stand zu versammeln: Polnische Polizei, französische Ersthelfer, schwedische Freiwillige – uns trennen Welten und Sprachprobleme, doch verbinden uns die gemeinsamen Erlebnisse. Geschichten machen die Runde: Die Frau, die ihren Hund im Mantel trägt und ihm Windeln angezogen hat, die Freunde, die sich seit Jahren nicht und jetzt zufällig im Wärmezelt wiedergetroffen haben, das durchgefrorene kleine Mädchen, das erst seine Puppe mit der wärmenden Suppe füttert, bevor es selber zugreift. Auch über „das Schlimmste“ ist Einigkeit schnell hergestellt: Abschiede der Familien von ihren Vätern, die sie an die Grenze gebracht haben und zurückbleiben müssen. Menschen mit Behinderung, die sich nicht selbst helfen können und trotz oder gerade wegen aller Hilfsbedürftigkeit nur das Nötigste annehmen. Alte Menschen, die nie zuvor ihr Land verlassen haben und denen die Verzweiflung darüber ins Gesicht geschrieben steht, vielleicht nie mehr zurückzukehren … Tränen in den Augen nicht nur der weiblichen Standbesatzung.

3:37 Uhr. Jenseits dieser Grenze hier, nur ein paar Meter von uns entfernt, herrscht Krieg. Wir versuchen, das zu fassen. Der Gedanke ist zu groß. Nicht nur ein Problem der Uhrzeit.

Auf dem Rückweg bei Sonnenaufgang. Eine Krähenkolonie in einem Wäldchen am Ortsrand, gelb schlotende Schornsteine der mit Kohle beheizten Öfen, Verkehrspolizei in schmucker Uniform, Nebelschwaden über dem Fluss, eine alte Frau, die Steine vom Acker in ihre Schürze sammelt, Fasane mit leuchtend bronzefarbenem Brustgefieder, die noch kargen Bäume mit kugelrunden Misteln übervoll, ein Pferdefuhrwerk im Stadtverkehr, dessen Kutscher das Handy am Ohr hat.

Tag- und Nachtgleiche. Unser Rhythmus ist dahin. Wir schlafen, wenn wir dazu kommen, egal um welche Tages- oder Nachtzeit.

Zweiter Versuch. Iza, unsere polnische Verbindungsfrau zur Feuerwehr, Übersetzerin und heute meine Stand-Kollegin, unternimmt einen weiteren Anlauf, mir wenigstens ein paar Brocken Polnisch beizubringen. Bei Kaffee und angefrorenen Butterkeksen das Experiment, Konsonanten wohlklingend aneinanderzureihen. Allgemeine Belustigung. Zum Schluss ein gnädiges: Dobry, gut.

Tag vier. Angesichts stark abnehmender Flüchtlingszahlen geht die Sorge um, der Weg von Lwiw an die polnische Grenze könnte nicht mehr sicher sein. Die Spezialkräfte, die mit uns untergebracht sind, rücken aus, bis an die Zähne bewaffnet. Angeblich zieht Putin seine Truppen rund um Kiew zurück. Warum? Um „Platz zu schaffen“ für einen gezielten atomaren Angriff? Vermutungen und Deutungen, allesamt höchst unerfreulich. Ich weiß nicht so recht, ob es die Kälte ist oder Angst, die mich frieren lässt.

16 Stunden Ukraine. Die beiden Hilfseinsatz-Profis im Team beschließen, sich jenseits der Grenze ein eigenes Bild zu machen. Der polnische Verbindungsmann für den Lebensmitteltransfer in die Ukraine, Janosch, soll die beiden soweit es geht Richtung Osten begleiten. Kurz vor der Abfahrt am frühen Morgen ist die Nervosität mit Händen zu greifen. Aus Sicherheitsgründen vereinbaren wir, dass die Handys der beiden ausgeschaltet bleiben. Die Versorgung der Erstaufnahmestellen im Hinterland und des Pendelverkehrs in die Ukraine mit Nahrungsmitteln – willkommene Ablenkung für die Zurückbleibenden.

300 Kilometer westlich von Kiew. Der Kundschaftertrupp hat es bis Riwne geschafft. Dort sieht es schlimm aus, die Menschen leben in ihren Kellern, werden in großen Gebäuden wie Rehazentren etc. zusammengezogen und zentral versorgt. Freiwillige bekochen in einer Großküche täglich über 2.000 Menschen mit dem, was aufzutreiben ist. Es fehlt an allem. Die Kollegen knüpfen Kontakte zur Stadtverwaltung und dem Katastrophenschutz und klären mögliche Transportwege. Der Beschluss ist schnell gefasst, die Hilfsleistungen der Stiftung neu auszurichten, dafür in großen Mengen Lebensmittel und Medikamente zu sammeln und einen großen Lkw direkt dorthin zu schicken.

Fast 4.000 Kilometer später. Nach dem Einsatz ist vor dem Einsatz. Es gibt viel zu organisieren. Der neue Hilfstransport muss bestückt, die Flüchtlinge sollen in Deutschland, so schnell und gut das eben geht, heimisch werden. Vieles ist liegen geblieben, manches hat im Lichte der Geschehnisse der letzten Tage an Wichtigkeit verloren. Das Ankommen braucht mehr Zeit als erwartet. Die ehrliche Erleichterung und das herzliche Willkommen des Sympra-Teams, das mir den Rücken freigehalten hat, sind ein großes Geschenk.

 

Veronika Höber ist Geschäftsführerin von Sympra und hat einen Hilfseinsatz der Deutschen Humanitären Stiftung an die polnisch-ukrainische Grenze begleitet.

Über die Verfasserin

Veronika Höber ist Geschäftsführerin von Sympra.

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Kommentare zu diesem Post

Helmut v. Stackelberg

Danke Veronika, das ist ein sehr bewegender Text. Wir sind froh, dass Du wieder da bist.