Ein intelligenter Katheter navigiert sich selbstständig durchs Herz. OP-Ärzte blicken durch VR-Brillen tief ins Innere von Organen oder Muskelsträngen. Das sind nur zwei von vielen Szenarien, an denen die boomende Medizintechnikbranche in ihren Laboren forscht. Roboter und Künstliche Intelligenz werden schon bald medizinische Behandlungen ermöglichen, die vor wenigen Jahren noch unvorstellbar waren. Doch bei aller Euphorie für die neuen Technologien: Ich habe erst kürzlich die Erfahrung gemacht, dass unser Gesundheitswesen von der digitalen Transformation noch ein Stück entfernt scheint.
Daten digital übertragen? Geht nicht!
Meine Erwartung, dass im Zeitalter der Digitalisierung der Hausarzt die auf seinem Computer gespeicherten Befunde einfach per Mausklick ins Krankenhaus schicken könnte, erwies sich als reichlich naiv. Die Unterlagen wurden in der Klinik dringend benötigt. Die entsprechende Mailadresse hatte ich auch parat. Trotzdem wurde meine Bitte abgeschmettert: „Das machen wir nie so!“ Stattdessen saß ich ungeduldig im Wartezimmer, bis die Helferin endlich alles säuberlich ausgedruckt hatte und ich den Packen Papier quer durch die Stadt zum Krankenhaus bringen konnte. In einer für mich sowieso schon angespannten Situation kam das als völlig unnötiges „i-Tüpfelchen“ noch obendrauf – nervenaufreibend und lästig. Auch für die Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus sind Patientenakten eine echte Herausforderung, wenn auch aus anderem Grund, wie ich bei einem Interview für das Wissensmagazin unseres Kunden, dem Leibniz-WissenschaftsCampus in Tübingen, erfuhr.
Datenwust und hoher Zeitdruck
In dem interdiziplinären Forschungsverbund beschäftigen sich Wissenschaftler mit kognitiven Interfaces, also den Bedienoberflächen, über die Menschen und Maschinen miteinander kommunizieren. Im Fokus steht die Frage, wie diese Schnittstellen gestaltet sein müssen, damit sie das Denken, Handeln und Arbeiten verbessern. Eines der spannenden Projekte ist der interaktive Visitetisch, bei dem es um die mit Arztbriefen, Laborberichten, Radiologieaufnahmen und sonstigen Dokumenten prall gefüllten Patientenakten geht. Aus diesem Datenwust müssen Mediziner nämlich die Fakten herausfiltern, die relevant sind, um zu einer richtigen Diagnose zu kommen. Eine komplexe Aufgabe, die nochmals verschärft wird durch den hohen Zeitdruck im Klinikalltag mit ständig wechselnden Patienten.
Wichtiges von Unwichtigem trennen
Eine wichtige Rolle spielen medizinische Informationssysteme, über die Klinikärzte auf die Patientenunterlagen zugreifen können. Da die Dokumente aber mal als Text- oder Bilddatei, mal als Scan oder Grafik vorliegen, sind sie nicht immer kompatibel, benötigen unterschiedliche Software und müssen deswegen teilweise auf unterschiedlichen Computern angesehen werden. Hinzu kommt: Die bisherigen Systeme bieten kaum eine Möglichkeit, relevante von irrelevanten Informationen zu trennen. Das würde Ärzten aber enorm unterstützen, wenn sie beispielsweise bei der Visitevorbereitung zahllose Dokumente lesen, bewerten und miteinander abgleichen müssen. Genau darauf zielt die Projektidee des interaktiven Visitetischs.
Die richtigen Puzzlestück finden
Der Prototyp des Visitetischs sieht im inaktiven Zustand aus wie ein normaler Tisch mit dunkler Glasplatte. Wird er angeschaltet, verwandelt sich die gesamte Oberfläche in ein Multi-Touch-Display. Die für das Projekt digitalisierten Patientenakten werden mit einfachen Gesten wie Ziehen oder Drehen gesteuert. Parallel lassen sich mehrere Dokumente öffnen und thematisch gruppieren. Zum ersten Mal können Ärzte in der Datenflut nach Stichworten suchen, die Wichtigkeit einzelner Dokumente festlegen und interessante Werte oder Textpassagen farbig markieren. In Zukunft könnte die digitale Technik die Ärzte dabei unterstützen, die vielen Puzzleteile aus den Patientenakten zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzusetzen, um sich für die richtige Diagnose und Behandlung zu entscheiden. Das wäre auch ein Schritt auf dem Weg zur digitalen Transformation im Gesundheitswesen.
Mehr Informationen zum interaktiven Visitetisch und weiteren Projekten des Leibniz-WissenschaftsCampus Tübingen finden Sie hier.
Bildquelle: © IWM / Max Kovalenko
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