50 Stunden Indien

Brechend voll: Die Straßen von Bangalore.

Letzte Woche weihte Sympra-Kunde Daimler ein neues Forschungs- und Entwicklungszentrum in Indien ein. Als Redakteur für das Fachmagazin „automotiveIT“ war ich live dabei – und konnte mir vor Ort ein Bild über den BRIC-Staat machen, den Marktanalysten gern als „schlafenden Riesen“ bezeichnen. Tatsächlich fand ich nur einen Teil der Metapher bestätigt: Das Land ist gigantisch. Aber geschlafen hat niemand: weder Indien, noch unsere Journalistengruppe.

Das 50-Stunden-Programm war dicht gedrängt. Zuerst besichtigten wird das Werk von Mercedes-Benz India in Pune, rund 170 Kilometer östlich von Mumbai. Dort werden seit 2009 Modelle der C-, E- und S-Klasse montiert. Letztes Jahr kam die M-Klasse dazu, 2013 folgt der GL. SUVs, also sportlichen Geländewagen, wird ein großes Absatzpotenzial auf dem Subkontinent vorhergesagt. Einerseits verständlich: Die Straßenzustände sind so, dass man sich gern in ein komfortables Auto mit hohem Radstand setzt. Andererseits unverständlich: Die Straßenzustände sind so, dass man sich am besten in überhaupt kein Auto setzt. Busse, Pkw, Mopeds, Tuk-Tuks, Fahrräder, Fußgänger, Kühe, Kinder, Elefanten, Linksverkehr – auf Indiens Verkehrswegen sieht man alles und alles auf einmal. Es geht drunter und drüber. Die Hupe ist das Bauteil, das am häufigsten zum Einsatz kommt. Es ist laut, es ist chaotisch, es ist Dynamik pur. In den Großstädten sind Pendlerströme mit mehreren hunderttausend Menschen die Regel, auch am Wochenende. Und das mit einer Infrastruktur, vergleichbar der Deutschlands in den 1960-er Jahren.

Großer Nachholbedarf

2012 verkauften die „großen Vier“ Maruti-Suzuki, Hyundai, Tata und Mahindra zusammen nur 2,5 Millionen neue Autos. Im Premiumsegment setzen BMW, Audi, Mercedes-Benz, Volvo, Porsche & Co. gerade  mal 31.700 Einheiten ab. Erfolg sieht anders aus. Trotz der ernüchternden Zahlen hat sich Daimler ehrgeizige Ziele gesetzt. Eberhard Kern, Geschäftsführer und CEO von Mercedes-Benz India, zielt hoch und bläst zur Offensive: Mehr Modelle, ein erweitertes Händlernetz und Komplettangebote inklusive Finanzierung, Versicherung und Mobilitätsservice sollen den Absatz ankurbeln. „In Indien investieren wir in die Zukunft“, sagte er mir bei einem Werksrundgang.

Eberhard Kern (links) leitet seit Dezember 2012 das Mercedes-Benz-Werk in Pune und empfing Journalisten aus Deutschland.

Wann die Rechnung aufgehen wird, weiß niemand. Nur eines ist sicher: Indien wächst, und zwar schneller als der Rest der Welt! 1, 2 Milliarden Einwohner (dreimal so viel wie Europa, bei vergleichbarer Fläche), über 200 Millionen Haushalte, jeden Tag heiraten 55.000 Paare (was sie nachts tun, kann man sich denken). Es gibt 467 Millionen gut ausgebildete Arbeitskräfte, kein Land schickt mehr Studenten in die USA. Die unternehmerischen Freiheiten erscheinen größer als bei uns, der Staat regelt nur 20 Prozent der wirtschaftlichen Aktivitäten. Beachtlich, wenn man weiß, dass Indien nach seiner Unabhängigkeit von Großbritannien länger kommunistisch beeinflusst war als die DDR.

Boom in der Hightechindustrie

Was jetzt in Boommetropolen wie Bangalore abgeht, verschlägt vielen Marktbeobachtern schlicht den Atem. Geschwindigkeit ist Trumpf. In der gleichen Zeit, die Stuttgart nun schon über den Bau eines neues Bahnhofs diskutiert, schießt im Silicon Valley von Indien ein Hightechbüro nach dem deren aus dem Boden: IBM, SAP, Infosys, Tata, HP, Microsoft, Philips, Infineon, Siemens – die Firmenliste ist so lang wie der Stau auf der Whitefield Road, die den Stadtteil mit dem Zentrum verbindet.

Der Stern glänzt: das neue Gebäude von MBRDI.

Kein schlechtes Pflaster für Mercedes-Benz, um ein neues Forschungs- und Entwicklungszentrum zu eröffnen. „Indien ist einer der Kernmärkte unserer Wachstumsstrategie Mercedes-Benz 2020 mit enormen Wachstumspotenzial“, sagte Daimler-Vorstand Thomas Weber bei der offiziellen Einweihung. „Mit unserem neuen Standort bauen wir unsere Präsenz am Markt weiter aus, um auch mit der Forschung und Entwicklung noch näher an unseren Kunden zu sein.“ Bereits heute beschäftigt Daimler in acht Ländern rund 21.000 Forscher und Entwickler. Bangalore in Indien ist die größte F&E-Lokation außerhalb Deutschlands. Dort arbeiten derzeit 1.000 Konstrukteure, schon in drei Jahren sollen es doppelt so viele sein.

Digitales Scheibenkratzen

Mit dem neuen Zentrum hat Daimler drei Standorte in Bangalore unter dem Dach eines modernen Gebäudes vereint, auf dem sich weithin sichtbar der Mercedes-Stern dreht. 1996 startete Mercedes-Benz Research & Development India (MBRDI) mit nur zehn Mitarbeitern und hat sich seitdem von einem reinen Forschungsstandort für IT und Fahrzeug-Elektrik/Elektronik zu einem konzernweiten Kompetenzzentrum entwickelt: Konstruktion, Simulation, Elektrik/Elektronik und IT – alle Unternehmensbereiche der Daimler AG greifen auf das Know-how in Indien zurück. Allein 2012 hat MBRDI 50 Patente angemeldet. Ein besonders schönes Beispiel: Die indischen Ingenieure haben eine Methode entwickelt, um das Enteisen von Frontscheiben zu simulieren, obwohl sie selbst mit diesem Problem nie zu kämpfen haben werden – die nächtlichen Tiefstwerte in Bangalore sinken nicht unter 15 Grad Celsius.

Symbolische Geste zum offiziellen Einzug (v.l.): Jens Cattarius (CEO MBRDI), Thomas Weber (Entwicklungsvorstand Daimler AG), Thomas Merker (Ressortleiter MBC Entwicklung), Michael Gorriz (CIO Daimler AG).

 

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert