Krisensitzung Erfolgsfalle

Wenn ich heute daran zurückdenke, dann erscheint mir die Situation immer noch skurril. Auch wenn ich weiß, wie die Geschichte ausgegangen ist. Ich sehe mich im Büro eines der beiden Geschäftsführer des  damals noch kleinen Unternehmens sitzen. Nennen wir es zum Schutz der Beteiligten Müller&Co. Mir gegenüber die zwei Geschäftsführer. Beide mit sorgenvoller Miene. Der Kaffee ist – wie immer in dieser Firma – heiß und kräftig. Aber die Atmosphäre ist eher kühl. „Herr von Stackelberg, wie soll das weitergehen? Ihre PR-Maßnahmen sind viel zu erfolgreich! Das bringt unsere Planung komplett durcheinander.“ Ich weiß, dass dies nicht als Witz vorgetragen wird. Meine Argumente sind dem Ernst der Situation angemessen. Später haben wir ab und zu darüber gelacht. Damals  nicht.

Aber der Reihe nach. Vor gut zwanzig Jahren, in der Frühzeit von Sympra, hatten wir diesen Kunden gewinnen können. Im Hinblick auf die süddeutschen Mittelständler waren die 90er-Jahre auch die „Frühzeit der PR“. Denn wie oft mussten wir damals noch erklären, was der Unterschied zwischen Anzeigen und PR ist. Warum man Fachartikel nicht „schalten“ kann und warum das Prinzip „Gießkanne“ bei Aussendungen eher schädlich ist. Aber dieser Kunde war lernwillig. Der (kleine) Etat war der Unternehmensgröße angepasst. Sieben Mitarbeiter kümmerten sich um das Produkt. Die Zielgruppe war überschaubar, da die potenziellen Kunden entweder vom Produkt noch nichts ahnten oder es sogar als neumodischen Schnickschnack bewusst ablehnten. Es war die Zeit, in der Rechner noch 286 hießen und die sagenhafte Kapazität von 40MB auf der Festplatte bereithielten.

Auch die Zahl der Anwender hielt sich noch in Grenzen. Immerhin – es gab die Möglichkeit von so genannten Objektreportagen. Und deshalb hatten wir dem Kunden in unserem ersten PR-Plan vorgeschlagen, dass wir neben den klassischen Presseinformationen über Produktneuheiten auch zwei Artikel darüber erstellen würden, was die Anwender mit diesem Produkt an interessanten Projekten realisieren konnten. Und sollten wir mit etwas Glück sogar mehr als zwei Redaktionen dafür interessieren können (wir waren damals selbst nicht ganz so sicher), dann würden wir aus diesen Artikeln für ein Pauschalhonorar von 400 Mark Textvarianten herstellen, damit wir jede Fachzeitschrift mit „ihrem eigenen Artikel“ bedienen könnten.

So weit so gut. Mit den Veröffentlichungsergebnissen der Presseinformationen im ersten Jahr waren wir recht zufrieden. Der Kunde auch. Dann geschah aber etwas, mit dem wir beide nicht (so früh) gerechnet hatten: Der Medienmarkt „explodierte“. Nicht nur, dass sich plötzlich die klassischen Standesmedien der Anwender dem Thema öffneten, neumodischer Schnickschnack hin oder her, sondern es sprießten innerhalb kürzester Zeit zahlreiche ganz neue Medien auf dem Markt, die sich praktisch ausschließlich mit dieser bahnbrechenden technischen Lösung befassten. Daneben interessierten sich sogar die Technikbeilagen der Tageszeitungen für die neuen Instrumente und es entwickelten sich mehrere Fachmessen, die über die Republik und das Messejahr verteilt um Aussteller und Besucher buhlten.

Da Müller&Co mit seinen Produkten an der vordersten Front der technischen Entwicklung war, wollten die Medien auch Futter von uns. Nach jeder Aussendung einer Presseinformation bekamen wir jetzt regelmäßig vier bis fünf Anfragen, ob wir zu diesem Thema nicht einen längeren Artikel liefern könnten, gern über zwei Druckseiten, gern mit Bildern. Wir waren stolz. Wir schrieben uns die Fingerchen mit Textvarianten wund, organisierten Bilder, rannten ins Fotolabor (damals wurden immer noch Orginalabzüge auf Fotopapier versandt), wir telefonierten und faxten. Auch die Veröffentlichungen gefielen dem Kunden. Irgendwann kamen wir dann sogar zum Rechnung schreiben. Die Reaktion folgte prompt nach einem Tag Postlaufzeit.

„Muss das sein?“ war das Fax überschrieben. Mails gab es noch nicht. „Müssen wir denn alle Redaktionswünsche erfüllen? Was das kostet! Wie können Sie uns in eine solche Falle locken? Wie sollen wir denn hier eine Etatplanung machen?“ Verbunden war alles mit der „Einbestellung“ zu einer Krisensitzung am nächsten Tag an den Firmensitz. Der befand sich und befindet sich noch heute in einer der schönsten Ferienregionen Süddeutschlands. Ich hatte auf der Fahrt also ausreichend Zeit, mich darüber hinwegzutrösten, dass unsere großartigen Veröffentlichungserfolge vom Kunden nicht anerkannt wurden – ja sogar sein Missfallen erregt hatten. Und ich hatte die Muße, meine „Verteidigungsstrategie“ zu memorieren.

Erwartungsgemäß war aber nach einer Stunde alles geklärt. Die beiden Geschäftsführer haben dann doch sehr schnell begriffen, mit welchen Pfunden sie hier wuchern konnten. Fachartikel nicht mehr bei den Redaktionen mit Hilfe aller Überzeugungskünste anbieten müssen, sondern „gefragt und gebeten“ werden – dass dies ein Asset ist, das man nicht wegschmeißen darf, war dann doch zu offensichtlich. Dass wir Redaktionswünsche nicht abschlägig bescheiden wollten, nicht zuletzt auch um unseres Standings im Markt willen, wurde ebenfalls akzeptiert. Das schlagende Argument war aber, Asche auf mein Haupt, das vielgeschmähte Anzeigenäquivalent. Ich hatte ausgerechnet, was der Kunde für den Platz in den Fachmedien hätte bezahlen müssen, wenn er Anzeigen geschaltet hätte. Die Summe war beeindruckend. Sie überstrahlte natürlich nicht nur unseren bescheidenen Aufwand für Textvarianten, sondern sie war etwa zehnmal so hoch wie unser gesamter Jahresetat.
Apropos Etat, und das ist sozusagen die Moral von der Geschichte: Begriffen habe ich damals, dass auch der Kunde Planungssicherheit braucht. Egal ob die Veröffentlichungszahlen explodieren, die Redaktionen einem die Bude einrennen und mittelfristig sicher dadurch auch die Verkäufe beim Kunden steigen – die Freude darüber darf nicht durch eine noch so kleine Schieflage in der Finanzplanung getrübt werden. Bei der denkwürdigen Krisensitzung bei Müller&Co wurde dann für das laufende Jahr ein „Sonderetat für zusätzliche Veröffentlichungen“ eingerichtet. Letztendlich war diese „Krise“ aber die Geburtsstunde der „Grundbetreuung“, die je nach Größe des Kunden und Zahl der Projekte einen „Brennstoffvorrat“ einrichtet, der geplant ist, aber nicht zwingend restlos aufgebraucht werden muss.

Ach ja, und wie ging es mit dem Kunden weiter? Müller&Co hat die Zahl seiner Mitarbeiter in den 90er-Jahren beinah verzehnfacht. Das Unternehmen mit seiner Produktpalette war so attraktiv und stark im Markt, dass die beiden Geschäftsführer und Inhaber es schließlich an einen großen Mitbewerber in den USA verkaufen konnten. Die Geschichte habe ich in einem urigen Hummerrestaurant an der Ostküste in der Nähe von Boston zum ersten Mal erzählen dürfen, als wir mit der Leitung des kaufenden Unternehmens zusammensaßen. Der Verkauf war da schon längst über die Bühne. Wir haben alle schmunzeln müssen.

Quelle: Thorben Wengert / pixelio.de, Rolf van Melis / pixelio.de

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Kommentare zu diesem Post

Annegret Linder

Schöne Geschichte, habe ich gerne gelesen.